Wenn man an Rentiere denkt, stellen sich viele Rudolph, den rotnäsigen Gehilfen des Weihnachtsmanns vor. Nur wenigen ist es vergönnt, Rentiere aus nächster Nähe zu sehen und zu erleben, dass sie nicht nur Fabelwesen sind. Ich hatte das große Glück, für meine Masterarbeit wilde Rentiere auf Spitzbergen in ihrem natürlichen Lebensraum erforschen zu dürfen. Abgesehen davon, dass sie sehr „niedlich“ sind, habe ich großen Respekt für diese Tiere entwickelt. Sie schaffen es, unter den harschen Bedingungen der Arktis zu überleben und sich von der äußerst kargen Vegetation zu ernähren. Wie kann man von Moosen und Gräsern nur so pummelig werden?

Wusstet Ihr, dass...
… einige Rentiere tatsächlich rote Nasen haben?
Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Rentiere die rote Färbung ihrer Riechorgane einer extremen Konzentration von Adern verdanken, die die empfindliche Nase mit warmem Blut versorgen und helfen, die Körpertemperatur in der rauen Umwelt zu regulieren. Wenn Rentiere überhitzen (z.B. durch langes Rennen), können sie die Wärme nur über die Nase und die Beine abführen – der Rest ihres Körpers ist durch das dicke Fell zu stark isoliert.

… Karibu und Rentier zwei unterschiedliche Namen für die gleiche Tierart (Rangifer tarandus) sind?
Als Rentiere werden normalerweise die gezähmten Tiere bezeichnet, die gezüchtet und gehalten werden. Diese Rentiere leben vor allem in Skandinavien und Russland, sie können Schlitten ziehen und sind normalerweise dank kürzerer Beine etwas kleiner als ihre wilden Karibu-Verwandten. In Sibirien und auf Spitzbergen lebende Karibu werden „wilde Rentiere“ genannt. Es gibt insgesamt sieben Rentier-Unterarten.
… die Bezeichnung Karibu „der, der Schnee schaufelt“ bedeutet?
Sie stammt von dem Wort qalipu (kah-li-bu ausgesprochen) aus der indigenen nordamerikanischen Mi’kmaq-Sprache und bezieht sich auf die schaufelähnlichen Hufe mit scharfen Kanten, die sie benutzen um sich auf der Suche nach Flechten und anderen Pflanzen durch den Schnee zu graben. Der Klimawandel erschwert den Tieren mehr und mehr die Suche nach Nahrung.

… einige Karibus bis zu 5.000 Kilometer pro Jahr wandern – die längste bekannte Wanderung aller landlebenden Säugetiere?
Die einzige Rentier-Unterart, die nicht migriert, sind die Spitzbergen-Rentiere: sie haben von allen die kürzesten Beine und bewegen sich weder schnell noch weit.

… Rentier-Geweihe wie samtige Fingerabdrücke sind?
Die Geweihe können bis zu zwei Zentimetern am Tag wachsen. Solange sie wachsen, sind sie von einem durchbluteten Material umgeben, das wie eine Art behaarte Haut ist und sich wie Samt anfühlt („Bast“). Jedes Geweih ist einzigartig wie ein Fingerabdruck. Rentiere sind die einzigen Mitglieder aus der Familie der Hirsche, bei denen auch die Weibchen Geweihe tragen.
… Rentiere magische Augen haben, die die Farbe wechseln können?
Rentiere sind die einzigen Säugetiere von denen bekannt ist, dass ihre Augen je nach Jahreszeit die Farbe wechseln. Während des Sommers, wenn in der Arktis die Mitternachtssonne herrscht, sind ihre Augen gold. Im Winter hingegen, während der dunklen Polarnacht, werden ihre Netzhäute weniger reflexiv und die Augen erscheinen blau.

… Karibu-Kälbchen schneller rennen können als olympische Sprinter?
Ein nordamerikanisches Karibukalb kann schon am ersten Lebenstag schneller rennen als ein olympischer Sprinter. Ausgewachsene Tiere können etwa 60 bis 80 Kilometer pro Stunde rennen. Deswegen werden Rentiere normalerweise auch nicht von Eisbären gejagt – die Bären würden während der Jagd überhitzen.

… die Rentiere des Weihnachtsmannes alle weiblich sind?
Männliche Rentiere werfen ihre Geweihe am Ende der Paarungszeit Anfang Dezember ab. Die Weibchen hingegen behalten ihre etwas kleineren Geweihe den ganzen Winter hindurch. Das heißt: Wenn man den Augenzeugenberichten glauben schenken darf, sind die Tiere, die Santas Schlitten durch den Himmel ziehen, alle Rentierkühe. Wer hätte das gedacht: Rudolph heißt eigentlich Rudolphine!

… Rentiere mit den Knien kommunizieren?
Manche Rentier-Unterarten haben Kniee, die beim Laufen ein Klickgeräusch machen, damit sich die Tiere während eines Schneesturms nicht verlieren.
… Rentiere Meister der Energieeffizienz sind?
Rentiere übertreffen alle anderen Landlebewesen in Sachen Energieeffizienz. Sie sind für den Schnee und die Kälte geschaffen: hohle Haare fangen die Luft ein, die dann aufgewärmt wird, und isolieren die Tiere perfekt. Während des Winters werden die Haare in den Gesichtern so lang, dass sie die Lippen bedecken und somit die Schnauzen schützen, wenn sie im Schnee nach Futter suchen.

… sie super-fettreiche Milch haben?
Ein neugeborenes Rentierkalb wiegt zwischen fünf und neun Kilogramm und kann innerhalb weniger Minuten nach der Geburt auf den eigenen Hufen stehen. Alle Kälber werden innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums im Frühjahr geboren. Sie wachsen sehr schnell durch die nährhafte Milch, die mit 20% Fettanteil zu den fettreichsten der landlebenden Säugetiere gehört (Milchkühe produzieren Milch mit einem Fettgehalt von etwa 3-4%). Wenn die Kälber etwa einen Monat alt sind, werden sie entwöhnt.
… die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl Rentierfleisch unverzehrbar machte?
Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl hatte schwere Konsequenzen für die Rentiere Europas und jene Menschen, die von ihnen leben. Bei der ersten Schlachtung, die die Sami fünf Monate nach dem Super-GAU 1986 durchführten, wurden 97 Prozent des Rentierfleisches als zu radioaktiv für den Verzehr eingestuft. Radioaktiver Niederschlag ist bis heute ein Problem. Rentiere lieben Pilze – und in Pilzen sammelt sich das radioaktive Element Cäsium. Viele Rentierhalter kontrollieren deswegen genau, was ihre Herden fressen, während andere über mehrere Wochen ein Bindemittel füttern, welches das Cäsium aus dem Körper entfernt.

… jeder Rentierhalter vom Volk der Nenzen ein heiliges Rentier hat?
Die Nenzen, ein indigenes Volk das im Nordosten des europäischen Teils Russlands und im Nordwesten Sibiriens lebt, sind von der Rentierhaltung abhängig. Jeder Rentierhalter hat ein heiliges Rentier, welches weder angeschirrt noch geschlachtet werden darf, solange es laufen kann. Die traditionelle Lebensweise der Nenzen ist zunehmend bedroht: Der Klimawandel lässt den Permafrostboden in der Region tauen. Ölunfälle verschmutzen das Wasser, Pipelines zerschneiden die Lebensräume und Migrationsrouten der Rentiere.
Erstveröffentlichung: 21.12.2015
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