Milch hat meine Oma vor dem Verhungern gerettet. Auf jeden Fall empfand sie das als Kind so, als die Bäuerin ihr jeden Morgen ein Glas Frischmilch brachte. Das war damals direkt nach dem Krieg und die Bäuerin wurde zu ihrem ganz persönlichen Engel.
Jetzt sitze ich vor ihr und sage: „Milch ist schlecht.“ Die Kühe würden leiden, die Kälber geschlachtet, Viehtransporte, Gülle, Treibhausgase, Klimawandel. Schmerz, Dreck, böse. Ihre Augen werden erst groß, dann schmal und zum ersten Mal in meinem Leben scheint meine Oma irgendwie richtig wütend auf mich zu sein.
Ich verspüre Unbehagen, da sitze ich, die, die nie richtigen Hunger hatte, und erzähle einem Kriegskind was vom Essen. Dafür schäme ich mich plötzlich. Also versuche ich das Gespräch auf sachlichere Themen zu lenken und rede über Proteine, B12 und Cholesterin. Meine Oma sinkt im Stuhl ein wenig zurück: „Ich habe aber das bestimmte Gefühl, dass in Fleisch und Milch wichtige Baustoffe sind. Baustoffe, die dir gut tun.“ Baustoffe, Gefühl. Wo ist meine schöne Sachlichkeit? Da ist er wieder, der Bruch. Ich mit meinem angelesenen Ernährungswissen und meine Oma mit ihrem erlernten. Beide haben irgendwie ihre Berechtigung.
Denn meine Oma ist auch Dorfkind. Schweine schlachten ging damals so: Das Schwein schrie und strampelte und die Männer stöhnten und schufteten bis das Schwein endlich nicht mehr schrie. Die Schlachtung passierte öffentlich und war ganz normal.
Irgendwann im Leben meiner Oma kam das Fleisch dann nicht mehr direkt vom Bauern, sondern aus dem Supermarkt. Während um sie herum die Wirtschaft explodierte und auch sie selbst in die Stadt zog, veränderte sich auch die Tierhaltung. Nur nicht für meine Oma: Sie hat immer noch die als Kind erlernten Bilder im Kopf. Die passen auch ganz wunderbar zu dem, was ihr die Werbung präsentiert in ihren Anzeigen mit Kühen im Grünen, Schweinen mit Schwänzen und scharrenden Hühnern. Die Werbung sagt auch: „Milch macht müde Männer munter.“ Das, was meine Oma über gesundes Essen weiß, stammt zwangsläufig auch aus der Werbung und die zeigt oft nur einen Teil der Wahrheit. Komme ich dagegen an?
Wir reden noch ein bisschen weiter oder eher ein bisschen weiter aneinander vorbei. Die Holzmaserung des Küchentischs ist in der darauffolgenden Stille auf einmal sehr interessant. Dann sagt meine Oma etwas super Schönes: „Weißt du was Marieke, wir müssen da doch nicht unbedingt einer Meinung sein. Du bist eine schlaue Frau und ich vertraue darauf, dass du dich gut informierst und deine Entscheidungen mit Bedacht fällst. Wir können aushalten, dass wir uns da nicht einig sind.“
Meine Oma kocht mir jetzt immer Milchreis mit Kokosmilch, obwohl sie ihr Lieblingsessen seit sie denken kann mit Kuhmilch macht. Einmal kurz aufgekocht und dann zum ausquellen unter die Bettdecke. Sie kauft mir außerdem viel zu viel Obst und Avocado, wenn ich sie besuchen komme. Dafür esse ich die „vegane Salami“, obwohl die Eier enthält und lasse das Ernährungsthema in der Schublade.
Meine Oma kocht derweil seit Kurzem auch für sich aus dem vegetarischen Kochbuch von Yotam Ottolenghi. Wer hätte das je gedacht?
Ich bin ziemlich stolz auf sie.
Zur Autorin:
Marieke Graf hat Umweltwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg studiert. Sie lebt vegan und war als Praktikantin bei Greenpeace in Hamburg.

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